Eine
der wahrnehmbaren Qualitäten eines Klangs ist seine Räumlichkeit - seine „räumliche Aura“, wie ich es nennen möchte -, die sich aus einer Vielzahl von Teilkomponenten zusammensetzt. Das menschliche Ohr ist in der Lage
räumliche Qualitäten aufgrund seiner Disponiertheit und aufgrund von gemachten Erfahrungen höchst differenziert zu entschlüsseln. Die spezifisch räumlichen Qualitäten des Klangs werden im Hörvorgang zu spezifischen
Wahrnehmungsqualitäten und in der neuronalen Weiterverarbeitung zu unverwechselbaren Erlebnisqualitäten. Damit scheint es möglich und künstlerisch sinnvoll, den Bereich räumlicher Wahrnehmung als musikalischen
Gestaltungsraum zu nutzen. Vielleicht klingt dies alles sehr theoretisch und musikfern. Meine Erfahrungen waren jedoch zunächst pragmatischer Natur. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Raumsituationen und
deren Voraussetzungen für die Klangerzeugung und Klangwahrnehmung gehören für jeden Musiker zum Alltag. Die akustischen Bedingungen eines Raumes wirken direkt und prägend auf das Klangergebnis.
I.
Jeder
Instrumentalist oder Sänger hat wahrscheinlich schon die Erfahrung gemacht, wie sehr die Akustik eines Raumes inspirieren oder auch frustrieren kann. Das Musizieren in einem geschlossenen Raum bedeutet, dass das gesamte
Luftvolumen des Raumes in Schwingung versetzt wird. Hierbei spielt die Reflektion des Klangs durch die Raumbegrenzungen eine entscheidende Rolle. Die Qualität der Reflektion ist abhängig von deren Form und
Materialbeschaffenheit. Man könnte es so sehen, dass der architektonische Raum, in dem Musik erklingt, eine Erweiterung des Resonanzkörpers eines Instrumentes oder der menschlichen Stimme bildet. Der Musiker muss dann
lernen mit dieser Erweiterung seines Instrumentes umzugehen, sich in seiner Spielweise darauf einzustellen und mit den akustischen Bedingungen (wie mit einem guten oder schlechteren Instrument) zu leben. Es besteht die
Tendenz die akustischen Bedingungen von Konzerträumen einander anzugleichen, zu optimieren und zu objektivieren, wodurch sie aber auch zugleich ihre Charakteristik, ihre Persönlichkeit verlieren und auswechselbar
werden. (vielleicht ist dies eine symptomatische Haltung für unsere Gesellschaft, die in vielen Bereichen zur Normierung tendiert und das Abweichen von der Norm tabuisiert)
II.
Mich
interessieren Räume, die in akustischer Hinsicht einen unverwechselbaren Charakter haben. In den vergangenen acht Jahren hatte ich das Glück, in einem besonderen Gebäude: im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, einem
in vieler Hinsicht faszinierenden Bauwerk des Architekten Hans Hollein, mit dem MUTARE ENSEMBLE eine Konzertreihe durchzuführen und mit den räumlichen Bedingungen zu experimentieren.
Ob in diesem Gebäude, das kaum
über abgeschlossene Räume verfügt, Musik überhaupt möglich sei, war die zunächst skeptisch gestellte Frage. Die Musiker des Ensembles und ich waren sofort fasziniert von den räumlichen Bedingungen und den damit
verbundenen Herausforderungen an unsere Fantasie und Kreativität. Im Entwickeln von Programmkonzeptionen und deren Realisation sammelten wir viele wertvolle - zum Teil sehr überraschende - Erfahrungen und lernten
das Gebäude und seine akustischen Bedingungen immer besser kennen. Dadurch, daß wir die Chance hatten, zu experimentieren und mit dem Raum wie mit einem Instrument zu ‚üben‘, gelang es uns schließlich mit einer gewissen
Virtuosität darauf zu spielen.
Heute kann ich sagen, das Abenteuer hat sich gelohnt: Das Ineinanderwirken von Raum und Musik führte zu Konzerterlebnissen, die etwas Unverwechselbares, Einmaliges hatten.
Für mein
Komponieren konnte ich viele wichtige Erkenntnisse aus dieser Arbeit ziehen. So wurde mein frühes Interesse an räumlichen Aspekten des Komponierens durch die nun gewonnenen Erfahrungen unterfüttert und auf eine neue
Basis gestellt. Die Präzision, mit der ich räumliche Wirkungen kalkulieren und einsetzen kann, hat sich entscheidend verbessert und differenziert.
III.
Lassen Sie mich anhand einiger
Kompositionen schlaglichtartig Aspekte von Räumlichkeit beleuchten, mit denen ich mich bisher beschäftigt habe.
In meiner Komposition „Bewegte Stille“
von 1979 gibt es ein erstes sehr reduziertes Moment von Räumlichkeit. Im letzten Satz „Ferne und Berührung“ hatte ich das Bedürfnis, die Überlagerung dreier unabhängiger Texturschichten und Zeitebenen, durch die räumliche Trennung der Instrumente transparenter zu machen. In der Tat fällt die wechselweise Fokusierung einer der Schichten beim Hören durch die räumliche Trennung wesentlich leichter und die Transparenz des Klanggeschehens wird erhöht.
Die räumliche Trennung von unabhängigen Texturschichten findet sich ebenfalls in meiner Komposition „Wir sind ein Teil der Erde“
für 6 Vokalsolisten, 3 Solobläser, 4 Chorgruppen und 5 Instrumentalensembles. Als weiteres Element von Räumlichkeit tritt hier die Bewegung des Klangs im Raum durch den Ortswechsel der Bläser und durch die Klangverschiebung zwischen den Chorgruppen hinzu. Bei dieser Komposition mußte ich die Erfahrung machen, daß eine Aufführung in einem weniger geeigneten Raum die Transparenz in Frage stellt. Bis zu einem gewissen Grade war dies beabsichtigt. Nach meiner Vorstellung sollte kein Hörer eine objektive Hörposition einnehmen, sondern die Komposition auf subjektive durch seine individuelle Hörperspektive geprägte Weise wahrnehmen. Trotzdem sah ich mich nach den Erfahrungen der Uraufführung in der Alten Oper veranlasst, die Komposition für spätere Aufführungen zu überarbeiten und die Textur auszudünnen, um die Durchhörbarkeit der räumlichen Prozesse zu verbessern.
In meiner Komposition „Raumtänze“
für 4 Klaviere geht es um imaginäre Klangbewegungen im Raum. Mit Hilfe der in einem Quadrat um das Publikum postierten Flügel versuchte ich vielfach ineinander verschlungene Bewegungsformen des Klangs im Raum zu erzeugen. Dieser Eindruck stellt sich zumindest für die Hörer im Zentrum des Quadrats her.
Eine sehr interessante Erfahrung in diesem Zusammenhang war die Erkenntnis, dass die räumliche Wahrnehmung wesentlich besser funktioniert, wenn durch das Schließen der Augen die Raumorientierung durch das Sehen
ausgeschlossen wird und der Raum nur über die Ohren erlebt wird. Hörer berichteten mir, sie hätten den Eindruck gehabt, nicht der Klang bewege sich im Raum sondern sie selbst führten auf geheimnisvolle Weise Bewegungen
im Raum aus. Gerade solche Momente ambivalenter Wahrnehmung finde ich in diesem Zusammenhang außerordentlich spannend!
Auch bei meinem „Zyklus“
für Trompete solo geht es um Bewegungen des Klangs im Raum. Allerdings projiziert hier die gerichtete Schallquelle einer Trompete, den Klang in verschiedene Richtungen. Der Solist führt während des Spielens differenzierte Bewegungen mit dem Instrument aus und dreht sich im Verlauf der Komposition einmal um sich selbst. Den verschiedenen Richtungen sind zugleich unterschiedliches musikalisches Material zugeordnet, das sich mit den Drehungen des Spielers verändert. Obwohl ich das Stück schon geschrieben hatte bevor ich das Museum in Frankfurt kennen lernte, scheint es wie gemacht für diesen Ort. Die Aufführung mit dem Spieler im Zentrum des Hauses, auf einem Treppenabsatz, lässt die von mir angestrebten Raumwirkungen auf ideale Weise entstehen. Je nachdem aus welchem Bereich des asymmetrischen Gebäudes der Ton der Trompete reflektiert wird verändert sich seine „räumliche Aura“ und damit sein Charakter.
Direkt für das Museum entstand meine Komposition „InSound“
für Solocello, Singstimme, 2 Celli, Kontabaß und Schlagzeug. Hier konnte ich meine genaue Kenntnis der akustischen Bedingungen des Hauses direkt in die Komposition einfließen lassen. Trotz allem ist das Stück weit davon entfernt, räumliches Hören als Selbstzweck zu demonstrieren. Das Thema ‚Räumlichkeit‘ ist hier in weit komplexerer Weise zu verstehen: Es geht um das Eindringen in Innenräume des Klangs, die sich öffnen und in reale Räumlichkeit weiten. Es geht um die komplexe Weite psychischer Räume, die sich über das Hören erschließen lassen und zurückwirken auf die Wahrnehmung der räumlichen Wirklichkeit im Außen.
Die Übertragung dieser Komposition in eine Fassung für Cello, Singstimme und computergesteuerte Elektronik wurde von mir später erstellt. Es war eine spannende Erfahrung. Die elektronische Raumsimulation hat durchaus
einen eigenen Reiz. Sie erreicht für mich jedoch in der Realität nicht die differenzierte Vielschichtigkeit,einer Instrumentalen Aufführung in einem geeigneten Raum.
IV.
Den in „InSound“
eingeschlagenen Weg verfolgt meine neueste – hier bei den Ferienkursen uraufgeführte - Komposition „innere Spuren“ weiter. Sie wurde für einen anderen Raum – für das Foyer des EUMETSAT-Gebäudes –
geschrieben, der ebenfalls über sehr spezifische Eigenschaften verfügt.
Die Komposition thematisiert den Gegensatz von Nähe und Ferne als räumliche - und als psychische Qualität sowie akustische Phänomene wie
Nachhall, Echo oder Resonanz.
Einen Auszug möchte ich aus meinen Text anführen, der im diesjährige Programmheft abgedruckt ist.
„Das Bewusstsein scheint mir manchmal genau dort angesiedelt, wo
sich Innenraum und Außenraum berühren, wo sich die Wahrnehmung von Innerem und Äußerem durchdringt und zur Subjektivität vereinigt. Die Fremdheit der Außenwelt und die scheinbare Vertrautheit der Innenwelt kann sich
schnell ins Gegenteil verkehren, so dass Nähe zu Ferne wird und umgekehrt. Nicht ohne Grund sind es immer wieder Begriffe, die zunächst für räumliche Beziehungen in der Außenwelt stehen, mit denen wir versuchen
unsere emotionale Bezogenheit zu all dem aus zudrücken, was uns außen und innen umgibt. Scheinbar spiegeln sich in der Physis der Außenwelt Bedingungen und Qualitäten, die unsere innere Befindlichkeit ausmachen und
lassen sich dort verbildlichen. Der Prozess der Wahrnehmung – zumal der des Hörens – ist immer eine Transformation von zunächst physikalischen Qualitäten in physische und dann psychische. Beim Hören spielt das Moment
der Resonanz – das Mitschwingen von Gleichgestimmtem – in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Es werden nur die
Qualitäten mit dem Ohr wahrgenommen, die dort eine Entsprechung in Form einer Resonanz finden und über diesen Vorgang in eine neurologische Qualität umgewandelt werden können. (So definiert sich der hörbare Frequenzbereich über die Disposition des menschlichen Ohrs.)
Die Bedingtheit unserer Wahrnehmung ist es also, die unser Bild der Außenwelt entscheidend prägt. Aber ist es nicht überhaupt so, dass wir nur das aufnehmen können, was irgendwo in uns eine Resonanz erzeugt?
In meiner Komposition „innere Spuren“
geht es um räumliche Qualitäten. Es geht um Klang, der sich im Raum entfaltet, sich durch die Bedingungen des Raumes wandelt und den Raum durch seine Bedingungen verwandelt. Es geht um Nähe und Ferne als akustische und psychische Qualitäten, um Nachhall, Nachklang und Resonanz als Momente von Berührung und Reaktion und um die Ambivalenz von Innen- und Außenräumen.“