Usinger Anzeiger, 7.6.2004

Die vielen Gesichter des Kurt Weill

Thomas Striebig

Sängerin Jenny Renate Wicky interpretierte viele der großen Songs von Kurt Weill. Neben den bekannten aus der "Dreigroschenoper" sang sie auch französische Chansons des Komponisten. Bild: Urbano

USINGEN. Traditionsgemäß schloss am Samstagabend die diesjährige Veranstaltungssaison des Kulturkreises Usinger Land e. V. mit einem Konzert in den Räumen und im Garten des Pianohauses Wedell, bei dem, wie auch in den letzten Jahren, nicht allzu schwere, aber keineswegs anspruchslose Kost geboten wurde. Kost wieder im doppelten Sinn, denn in den beiden Pausen konnte auch etwas gegen Hunger und Durst getan werden.Diesmal war das Programm einem Komponisten gewidmet, von dem die meisten der zahlreichen Besucher, wenn überhaupt, zuvor eine stark eingeengte Vorstellung gehabt haben dürften: Beim Namen Kurt Weill mag einem spontan Bertolt Brechts Dreigroschenoper einfallen. Dass Weill weit mehr als ein kongenialer Mitstreiter des frühen Brecht war, was an sich schon ein großes Verdienst darstellt, demonstrierte das Ensemble Mutare mit seinem Leiter Gerhard Müller-Hornbach und seiner vorzüglichen, ungemein vielseitigen Sängerin Jenny Renate Wicky in immer wieder verblüffender, schlicht begeisternder Weise und mit einem unerschöpflichen Ideenreichtum.
Neue Herausforderungen Hauptanliegen des seit zwei Jahrzehnten bestehenden Ensembles sei die Auseinandersetzung mit immer wieder neuen musikalischen Herausforderungen, erläuterte Müller-Hornbach; dies komme auch im Namen Mutare (= ändern, wechseln) zum Ausdruck. Dabei sei den Mutare-Mitgliedern über all die Jahre die Freude am geistreichen, detailfreudigen Spiel erhalten geblieben, was, so hoffe er zumindest, auch dem Publikum deutlich gemacht werden könne. Diese Hoffnung ging an diesem Abend zweifellos in Erfüllung.
Das in drei Abschnitte gegliederte Programm enthielt Werke aus allen Schaffensphasen des früh verstorbenen Weill (1900 bis 1950). Die meisten Lieder stammten vom "Bürgerschreck" der zwanziger Jahre, der ständig falsche Sentimentalität verspottet, Altbekanntes verfremdet und parodiert und doch eine unglaubliche Stimmungsvielfalt auf zumeist engem Raum und mit ganz unscheinbaren Mitteln erzeugt. Verständlich, dass ihn gerade die textlich auf dieser Linie befindlichen Brecht-Vertonungen berühmt machten; damals war der Dichter Brecht ja noch nicht vom Theoretiker und Ideologen Brecht an die Kette gelegt...
Daneben erklangen drei wunderbare, von großer Melancholie geprägte französische Chansons aus der Zeit des Pariser Exils um 1934, wie sie wohl vorher kaum ein Zuhörer Kurt Weill überhaupt zugetraut hätte und die vom Gehalt her auf der Höhe guter Kunstlieder standen, sowie einige Lieder aus der späteren "Broadway"-Phase des Komponisten.
Von Melancholie geprägt Die Einrichtung der großteils von Gerhard Müller-Hornbach stammenden Arrangements trugen dem "anti-romantischen" Charakter gerade des frühen Weill Rechnung; im Wechsel erklangen Klarinette, Saxophon, Posaune und Trompete, daneben Gitarre, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug, zum Schluss sogar Banjo, während Streicher - mit Ausnahme des jazzartig gezupften Kontrabasses - völlig fehlten. Trotzdem oder gerade deswegen gerieten dem Ensemble einige von Dichter und Komponist förmlich dahin gestrichelte und doch unglaublich subtile Frauen-Psychogramme wie die "Seeräuber-Jenny", die "Ballade vom ertrunkenen Mädchen" oder der "Barbarasong" besonders eindringlich, wobei Singstimme und Instrumente stets als gleichberechtigte Partner behandelt wurden; ganz gezielt ließen die Musiker gewissermaßen die verschiedenen Instrumente durch oft schneidende, dissonante Einwürfe die Melodik der Stimmenführung und den Text kommentieren, auch wenn dies gelegentlich auf Kosten der Textverständlichkeit ging. Aber auch die vielen anderen Stile, scheinbar unvereinbar und vom Komponisten immer wieder in verblüffender Weise zu einem Ganzen vereint, wurden in gleicher Weise umgesetzt. Man hätte gerne noch länger zugehört, zumal nach dem übermütig dargebotenen "Alabama-Song" am Schluss des Programms.
Großer Schlussapplaus Das Publikum dankte dem Ensemble Mutare mit einem kaum enden wollenden Schlussapplaus


Frankfurter Neue Presse, 8.6.2004

Brecht, Weill, kesse Songs und lange Beine

Von Jürgen Schnegelsberg

Usingen. Mit Musikdarbietungen ist es manchmal wie mit der französischen Küche: Ein Chateaubriand wird als schwer und gehaltvoll erachtet, Petit-Four hingegen als lecker, manchmal etwas gewagt, aber auf keinen Fall belastend. In bester Weise lässt sich dies auch vom jüngsten Konzert im Pianohaus im Taunus, gemeinsam mit dem Kulturkreis Usinger Land serviert, behaupten. Bei «Kurt Weill – Songs und Lieder zwischen 1921 und 1945» ging es weder um schwergewichtige Klassik-Interpretation noch um die tiefgründige Ausleuchtung der Emigrationsbiografien von Kurt Weill und Berthold Brecht.

Nichtsdestotrotz: Interpretationshilfen zum zeitgeschichtlichen Hintergrund wurden dazwischen gereicht wie ein frisches Glas Mineralwasser: Gerhard Müller-Hornbach, Leiter des seit gut 20 Jahren musikalisch agierenden Mutare Ensemble, sagte an, welche Lieder in der frühen Phase der 20er-Jahre unter Broadway-Einfluss getextet wurden und welche im Pariser Exil entstanden. Für den Champagner im Pianohaus sorgte Jenny Renate Wicke mit ihrem hellen Sopran, wobei es der persönlichen Interpretation überlassen blieb, ob dieser in Deutsch, in Französisch oder – wie im «September Song» (1938) – am besten in Englisch zur Geltung kam. Geboten wurde dabei die ganze Palette des Hintergrunds, von Weltwirtschaftskrise bis hin zur Diktatur und all ihren gebrochenen Figuren. Etwa im «Barbarasong» (1928) jene Dame, die «Nein» sagt bei Herren, die Werktags einen sauberen Kragen tragen, aber «Ja», wenn es gerade umgekehrt ist. Ein Hauch von Bordell, von Hinterhof, von Lebenslust wehte hier durch das voll besetzte Pianohaus. Frauenfiguren waren der eine Topoi, der Jenny Renate Wicke alle Möglichkeiten in Klang und Interpretation bot: Von verrucht bis kecke Berliner Göre, die das Klops-Lied von 1925 singt. Sehnsucht und Schmerz das andere große Thema, etwa im Lied «Youkali – Tango Habanera» von 1935. Hier klang – auf Französisch und ohne Mikro gesungen – all der Weltschmerz eines Emigranten durch, der einsam in einer Pariser Bar sitzt. Ganz stark herauszuhören und hervorragend interpretiert auch der Chanson-Einfluss in «Je ne t’aime pas» von 1934. Will ein Brecht/Weill-Abend das Publikum mitreißen, darf natürlich weder die «Seeräuberjenny» (1928), der lasterhafte «Surabaya Johnny» (1929) noch der «Alabama Song» (1929) aus «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» fehlen. Zu letzterem schwang sich die Sängerin aufs Piano und brachte den Saal in Hitze. Leider keine Zugabe. Zu loben: Claudia Hornbach am Akkordeon.
 


Frankfurter Rundschau, 24.3.2004

Guckloch in die Ewigkeit

Der Bad Vilbeler Chor "zwischenTöne" besingt in Ilbenstadts Basilika die Zeit, das Mutare Ensemble unterstützt ihn dabei

VON ANNETTE BECKER

Die Zeit ist ein merkwürdig Ding. Seit Menschen denken können, haben sie sich darüber die Köpfe zerbrochen. Vom Kind, das erfolglos versucht, "jetzt" zu denken bis zu den hauptberuflich Philosophierenden und Kreativen aller Epochen. Jetzt nahmen sich der Bad Vilbeler Chor zwischenTöne und das Frankfurter Mutare Ensemble des Themas musikalisch an. Passend zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen unter Leitung von Chorgründer Herbert Helfrich stellten die experimentierfreudigen Wetterauer in der Basilika Sankt Peter und Paul in Ilbenstadt gemeinsam mit dem - derzeit seinen zwanzigsten Geburtstag feiernden - Profi-Ensemble zwei Werke nebeneinander, komponiert im Abstand von mehr als dreihundert Jahren, gegensätzlich und ähnlich zugleich.

Sowohl Johann Sebastian Bachs filigran mit zwei Blockflöten und einer Minimalbesetzung in Streichern und Continuo begleitete Kantate Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit BWV 106 als auch Gerhard Müller-Hornbachs Am Rande der Zeit für Bariton, achtstimmigen Chor und Kammerorchester kreisten plastisch um Vergehen und Erneuerung. Bach komponierte kühn eine Art Guckloch in die Ewigkeit mitten in seine Kantate hinein, mit einer unendlich erscheinenden Generalpause nach dem allmählichen Verschwinden aller Stimmen. Müller-Hornbach, Gründer und Leiter des Mutare- Ensembles, der das Konzert in äußerst sympathischer Weise moderierte, verarbeitete Texte westlicher und östlicher Denkerinnen und Denker sowie musikalisches Material westlicher und östlicher Provenienz auf der Basis der Zahlenkombination 3-1-5 zu einem hypnotischen Strom vielschichtigster Klangfarben.

Erstmalig singen durfte dieses aufregende Stück der Bachchor Mainz, der es vor vier Jahren anlässlich des 315. Geburtstages von Johann Sebastian Bach in Auftrag gab. Aber auch die Bad Vilbeler machten ihre Sache hervorragend. Beide Werke erklangen stilsicher, transparent und mit der gebotenen Eindringlichkeit. Solide Leistungen boten die Gesangssolisten Stefan Geyer (Bariton), Brunhilde Böhm (Alt) und Thilo Busch (Tenor).

Ein Extra-Lob gebührt dem Lions Club Bad Vilbel, der dem überwiegend aus Amateurinnen und Amateuren bestehenden, rund fünfzigköpfigen Chor das Konzert ermöglichte. Solche Jubiläen sollte es öfter geben.
 


Frankfurter Rundschau, 10.3.2004

Erfolgreicher Teufelspakt

Das Jubiläumskonzert "20 Jahre Mutare Ensemble" im Frankfurter Sendesaal des HR lässt selbst alte Stücke jung aussehen

VON BERNHARD USKE
 

1983 war es die Geschichte vom Teufelspakt des Soldaten, der seine kleine Geige für Reichtum und Ehre der Welt hergibt, mit der einige um die Komponisten Gerhard Müller-Hornbach und Claus Kühnl gescharte Musiker erstmalig an die Öffentlichkeit traten: das Mutare Ensemble im TAT mit Igor Strawinskys L'Histoire du Soldat.

Jetzt, im Sendesaal des Hessischen Rundfunks zum Jubiläumskonzert ließ sich im Gegensatz zum damaligen Einstandsstück die seither anhaltende "L'Histoire du Mutare" als eine schöne Erfolgsgeschichte erfahren. Nicht die Geige und also auch nicht die Seele hat man sich in mehr als 300 Konzerten vom Teufel des Betriebs und des Erfolgs abringen lassen, sondern konnte im Funkhaus am Dornbusch vor zahlreichen Zuhörern ein Programm präsentieren, das das von Anfang an gemeinte Spektrum der Mutare-Aktivitäten beispielhaft verkörperte - Anschluss an die Traditionen der Moderne wahren, ihre Klassiker pflegen und die zeitgenössische Produktion in deren Licht mit berücksichtigen.

Das knapp 30-köpfige Ensemble war fast vollständig gefordert, denn zum Festkonzert wollte man natürlich zeigen, was man hat. Größenwahnsinn aber natürlich nicht und so wurden die das Programm eröffnenden Lieder eines fahrenden Gesellen von Gustav Mahler in der auf Kammerstärke reduzierten Fassung Arnold Schönbergs geboten. Hier musste für die kurzfristig erkrankte Gabriele Zimmermann innerhalb weniger Stunden Barbara Decker einspringen, die zwei der Lieder noch nie gesungen hatte. Phänomenal war der Auftritt der Wuppertaler Gesangs-Dozentin mit einem wunderbaren Legato, den Liedcharakter nicht operndramatisch verfremdend und die leisen Höhen spielend meisternd.

György Ligetis Cellokonzert (mit Susanne Müller-Hornbach) wirkte jetzt, fast vierzig Jahre nach seiner Entstehung und den vielen späteren klangwolkigen Stille- und Zusichfindensstücken wie ein Doppelgänger der meditativen Mikrotonalität eines Giacinto Scelsi, während die zwei Jahre alte Komposition Innere Spuren für Alt-Saxofon, Horn, Trompete und Kammerensemble des Mutare-Leiters und souveränen Dirigenten des Abends Müller-Hornbach besinnliche Klanglichkeit raum-musiklisch erfasste.

Drei Solisten als eine Art motivischer Impulsgeber standen erhöht vor dem Orgelprospekt über dem Ensemble, das nach einiger Zeit der Spurenbildung durch den dann hinzutretenden Komponisten-Dirigenten zur inneren Spurensicherung und -verarbeitung in Gestalt von harmonisch reizvollen Ligaturen übergehen konnte. Zuletzt begaben sich vier Ensemble-Mitglieder an die Außenränder des Podiums, um das allmähliche Spurenverwischen als restliches Klangflimmern an vier gestrichenen Becken zu betreiben.

Arnold Schönbergs Quarten-Türme der Kammersinfonie E-Dur op. 9, das einstige Fanal der Spätromantik, das den Einstieg in den Ausstieg der Tonalität expressiv und formhart bekundete, war schließlich als Könnensbeweis der Mutare-Artikulation, die Beweglichkeit, Phrasierungsvermögen und konstruktive Erfassung aller Dichtegrade der Musik bei heftigem Tempo vereinte, der gefeierte Höhepunkt des Abends. Wem es gelingt, ein fast 100 Jahre altes Stück so jung aussehen zu lassen, um dessen zukünftige Jubiläen braucht man sich keine Sorgen zu machen.

 


 

Frankfurter Neue Presse vom 09.03.2004

Die Musik gerät in Bewegung

Von Andreas Bomba

20 Jahre Mutare-Ensemble: Ein Festkonzert im Sendesaal des Hessischen Rundfunks.

Frankfurt, das stolz ist auf sein Musikleben, hat nur wenig, was es unverwechselbar selbst produziert in seinen Mauern. Ein Aktivposten ist das Mutare-Ensemble. Vor 20 Jahren, kaum hatte er sein Studium an der Musikhochschule beendet, scharte Gerhard Müller-Hornbach einige Musiker um sich mit dem Ziel, Kammermusik in variablen, ausgefallenen und auch großen Besetzungen zu realisieren.

Das gelang sogleich auf hohem Niveau. Das Ensemble benannte sich mit dem lateinischen Wort für "bewegen": mutare. Bei aller Flexibilität ist es erstaunlich, dass aus diesem Ensemble kein Karteikasten geworden ist, sondern die meisten Musiker der Idee treu geblieben sind. Auch wenn sie nicht mehr in Frankfurt leben, sondern ihren Arbeitsplatz an auswärtigen Hochschulen und Orchestern haben. Repertoirebildung und Ensemblegeist zu entwickeln, ist schwierig, und trotzdem gelingt es.

Das bewies der Abend im HR-Sendesaal. Das Programm stand exemplarisch für zwanzig Jahre Arbeit: neue Musik eingerahmt von Raritäten aus jener Zeit, als fortschrittliche Musiker begannen, das große sinfonische Orchester in Frage zu stellen und das herkömmliche Instrumentarium für farbige und neustrukturierte Ausdruckswelten zu nutzen.

Schönbergs Bearbeitung der "Lieder eines fahrenden Gesellen" scheinen Mahlers Musik noch zu intensivieren – und die Musiker zu stimulieren, die sich kurzfristig mit der eingesprungenen, den Erzählton der Lieder still hinterfragenden Sängerin Barbara Decker zusammenfinden mussten. Schönbergs Kammersinfonie op. 9 stand am Ende, virtuos, rhythmisch akzentuiert und leidenschaftlich interpretiert. Dazwischen gab es Klangstücke der stilleren Art. Ligetis Konzert für Violoncello und Orchester (Solistin: Susanne Müller-Hornbach) ist eher ein "Anti-Konzert", so sehr findet sich das Cello eingebettet in das Blas- und Streichinstrumentarium, unaufgeregt, in feinen Nuancen himmlische Ruhe erzeugend.

Müller-Hornbachs eigenes Werk "Innere Spuren" (2002) geht am Ende ähnliche Wege. Es ist, bei aller Arbeit an Form und Struktur, auch ein raumklangliches Experiment, so unterschiedliche Instrumente wie die solistischen Trompete, Saxofon und Horn in einen Dialog mit Akkordeon, Marimba und Tamtam zu setzen. Viel Beifall gab es vom kundigen Publikum – an spannenden Ideen für die nächsten 20 Jahre mangelt es, wie man hört, dem Mutare-Ensemble nicht.
 


 

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.03.2004,

Der Dirigent, die Musiker, der Raum

Satzung durch Tonsatz: Zwanzig Jahre Mutare Ensemble / Jubiläumskonzert im Sendesaal

Als sich vor fast genau 20 Jahren das von den Komponisten Gerhard Müller-Hornbach und Claus Kühnl gegründete Mutare Ensemble mit Charles Ives' Raumkomposition "The unanswered Question" erstmals der breiteren musikalischen Öffentlichkeit in Frankfurt präsentierte, stand das Anfang des vergangenen Jahrhunderts entstandene Werk gleichzeitig für ein heute noch gültiges Konzept des Klangkörpers, fungierte gewissermaßen als Satzung im Tonsatz. Müller-Hornbach, nach wie vor künstlerischer Leiter des Ensembles, treibt genau jene "ewige Frage nach der Existenz" um, nämlich der eigenen im Musikalischen, die Ives in seinem raumkonzeptionellen Wechselspiel zwischen Flöten und Trompeten in bester avantgardistischer Manier eben offenläßt. Seitdem wird diese Frage mit jedem Projekt des Ensembles neu gestellt.

Auch dem von Ives aufgeworfenen Raumkonzept, dem Dialogisieren der Klänge über weite Distanzen und Durchmessen der Diagonalen mit Musik ist das länderübergreifend aktive Ensemble treu geblieben. Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) mit seinen ständig wechselnden Perspektiven, Durchbrüchen und Fluchten bot ihnen während der neunziger Jahre schier unendliche Möglichkeiten der Klangbewegung im Raum. Bei manchen Konzerten der bald renommierten Frankfurter Reihe im MMK waren Publikum und Musiker gleichermaßen in Bewegung: Das Museum mutierte zu einer Schallbahn. Die Musik wirkte auratisch, konnte fern klingen, obwohl man in der Nähe ihrer Entstehung stand und umgekehrt. Damit wurde jener Zustand erreicht, der das Publikum des Ensembles ebenso wie die Musiker in einer gemeinsamen Hör- und Musikerfahrung zur Gemeinschaft verbindet - ein genereller Anspruch des Klangkörpers: Hindemiths Porträt in Müller-Hornbachs Dienstzimmer hat seine tiefere Bedeutung. Das im doppelten Sinne, nämlich räumlich wie musikalisch offene Konzept des Mutare Ensembles wurde mit experimentellem Musiktheater bis hin zu weiträumigen Rauminstallationen an außergewöhnlichen Aufführungsorten erfolgreich fortgesetzt, zuletzt bei den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik.

Vor vier Jahren konzipierte Müller-Hornbach gemeinsam mit der renommierten Installationskünstlerin Christina Kubisch für das Mutare Ensemble das Projekt "Nutzflächen" in einer Industrieruine am Rande der Stadt, vor zwei Jahren spielte in der Dramstädter Zentrale von Eumetsat das Ensemble die Uraufführung von Müller-Hornbachs "Innere Spuren" für drei Solobläser und Kammerensemble. Dieses Werk, das neben Musik von Mahler, Ligeti und Schönberg beim Jubiläumskonzert des Mutare Ensembles im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks am Sonntag abend zu hören sein wird, verdeutlicht noch einmal den künstlerischen Ansatz: Der Raum wird mitkomponiert, der Dirigent ist ein Musiker unter vielen. Er gibt ihnen nicht nur die Einsätze, er bekommt sie von ihnen gewissermaßen, reagiert auf deren Vitalität, und das Publikum wird durch die abschließende Bewegung der Musiker im Raum aktiv mit in das Klanggeschehen einbezogen. Konsequent: Das auch im Ausland gefragte Mutare Ensemble hat sich nie professionalisiert. Die Musiker mußten davon nie ihren Lebensunterhalt bestreiten, sondern sind verstreut in Deutschland tätig. Sie treffen sich in Frankfurt nur, um gemeinsam die anstehenden Projekte vorzubereiten. Das bedeutet für die Gruppe, die nun ihr zwanzigjähriges Bestehen feiert, größte künstlerische Unabhängigkeit.

ACHIM HEIDENREICH

 


 

Frankfurter Rundschau, 10.07.03

Von der Akribie im Umgang mit einem Ton

Neue Musik im Nebbienschen Gartenhaus: Das Mutare Ensemble setzte Werke von Mundry und Paucet kongenial um

Von Annette Becker

Komponieren ist für Isabel Mundry kein Monolog. Auch wenn sie in Einzelheiten sehr pingelig sein kann, wie die 1963 geborene Komponistin und Hochschullehrerin über sich sagt. „Komponieren, so individuelle es auch sein mag, hat für mich immer ein Gegenüber“, erklärt Mundry dem Matinee-Publikum beim Portraitkonzert des Frankfurter Künstlerclubs. Das können bereits die Instrumente sein. Oder die Notation. Oder die Musikerinnen und Musiker, für die sie ein Stück schreibt. Jetzt war es zum ersten Mal ein komponierender Kollege. Vor acht Jahren begegneten sich Isabel Mundry und Brice Paucet am Pariser Ircam-Institut. Gemeinsam schrieben die beiden im Laufe des vergangenen Jahres das Trio „Die Vorüberlaufenden“ für Flöte, Bassklarinette und Violoncello nach einer Erzählung von Franz Kafka. Im Nebbienschen Gartenhaus wurde es aufgeführt.

 Dabei war die junge Gemeinschaftskomposition bei Dirk Peppel, Jutta Fischer und Susanne Müller-Hornbach vom Mutare Ensemble in den besten Händen. Auf Neue Musik spezialisiert und traumhaft sicher in den entsprechenden Techniken, machten sie den mehrstufigen Dialog von Mundry und Paucet transparent. Den bezeichnete Mundry zwar bescheiden als „work in progress“, zumal ihr letzter Beitrag noch fehle. Aber was zu hören war, klang bereits äußerst verheißungsvoll. Ob wohl die Idee zum gemeinsamen Komponieren letztendlich aus Zeitmangel entstanden war. Ein Trio hatte beiden Tonkünstler im Sommer 2002 um eine Komposition gebeten. Zu einem kompletten Stück fehlte jedoch beiden die Zeit.

 Also schlossen sich Mundry und Paucet zusammen, komponierten zunächst 77 Sekunden separat, Mundry für Flöte und Paucet für Violoncello. Dann erstellten sie eine „Produktionsschema“, schrieben Takt für Takt abwechselnd weiter, „wie bei einem Knickbild“, so Mundry: „Die Melodie ging immer etwas anders weiter, als ich mir das dachte.“ Oft seien Ideen dabei gewesen, auf die sie alleine nicht gekommen sei. Im nächsten Schritt erweiterten Mundry und Paucet den Dialog, arbeiteten einen polyphonen Abschnitt ein, komponierten schließlich Note für Note, denn: „Mit einer Note kann man viel machen!“

Das war bereits bei „traces des moments“ (2000) deutlich zu hören, einem Ensemble-Stück für Klarinette, Akkordeon, Violine, Viola und Violoncello. Inspiriert zu diesem Stück hatte Mundry wie so oft ein visueller Eindruck. Fasziniert von einem japanischen Garten in Kyoto, in dem die wellenartigen Muster eines Kiesgartens dem lebendigen Fluss eines nahen Wasserfalls entsprachen, hielt sie ihre Eindrücke in der Musik fest – in einem „Versuch, die Schatten, die ein Augenblick in die Zeit wirft, zu komponieren“.

 Dank der detailgenauen Interpretation des Mutare Ensemble unter der Leitung von Gerhard Müller-Hornbach entstand im Konzert tatsächlich ein hoch komplexes, erschreckend genaues Abbild dieser Reflexion. Geboten wurde eine fast fotografische Umsetzung von Gedanken und minutiös beabachteten Formen: Von abstrakten Überlegungen über Parallelität, dargestellt im akribischen Experiment mit einem einzigen Ton in verschiedenen Ausgestaltungen, bis hin zu fast imprssionistischen Wiedergaben anbrandender und zerstiebender Wellen, einschließlich sprühender Wassertropfen und Frosch. Isabel Mundry fasst in Töne, was manchmal kaum in Worte zu fassen ist. Monologisch wird es trotzdem nicht.

 


Frankfurter Neue Presse, Taunuszeitung, 23.6.2003,
 
Bemerkenswerte Töne von Hölderlin
 
Von Michael Jacob

Im Rahmen der noch bis zum 6. Juli andauernden Hölderlin-Tage präsentierte die Philosophische Gesellschaft Bad Homburg in der Schlosskirche ein höchst bemerkenswertes Konzert mit Hölderlin-Vertonungen des 20. Jahrhunderts.

Zwei Werke standen auf dem Programm des Abends: "Hölderlin-Fragmente" aus dem Jahre 1945 von Hanns Eisler und die 1958 entstandene Komposition "In lieblicher Bläue" von Hans Werner Henze. Die sechs kurzen Lieder Eislers nach Gedichten von Hölderlin sind ursprünglich für Mezzosopran und Klavier entstanden, wurden jedoch von Gerhard Müller-Hornbach instrumentiert, um die Farbigkeit und Transparenz des Klaviersatzes zu unterstreichen und der dramatisch gestalteten Vokalstimme ein adäquateres Pendant zur Seite zu stellen. Eisler changiert in seinen Liedern zwischen spätromantischer Tongebung und modernen Konzeptionen. Herausragend gestaltete die Mezzosopranistin Gabriele Zimmermann die anspruchsvollen Partien mit weicher und nuancenreicher Stimme.

Ein umfangreiches Opus zum Thema Hölderlin präsentierte das Mutare Ensemble unter der Leitung von Gerhard Müller-Hornbach in der Besetzung des klassischen Oktetts, ergänzt durch Solo-Gitarre (Olaf van Gonissen) und Tenor (Peter Marsh). Das dreizehnsätzige Werk Henzes zu dem Prosatext "In lieblicher Bläue" von Hölderlin bot klangliche und besetzungstechnische Kontraste. Vom nahezu symphonisch angelegten Lied mit der Begleitung des gesamten Ensembles bis hin zu Sätzen für Gitarre-Solo fächert der Komponist die gesamte Palette reizvoller klanglicher Elemente auf. Brillant agierte Peter Marsh, der sich vom feinsten Falsett bis hin zu heldischer Kraft steigern konnte und dabei stets die dynamische Balance mit den Instrumentalisten im Auge behielt.

Die Tonsprache Henzes passt sich großartig der textlichen Vorlage Hölderlins an. Romantische Tongebung könnte man sich schwerlich zu den Ausdrucksformen des Dichters vorstellen. So gewöhnungsbedürftig wie die Sprache Hölderlins ist daher auch die Musik, die sicherlich nicht für alle Ohren angenehm und erbaulich ist.
 
 


Frankfurter Rundschau 25.3.2003

Kutten im Quadrat

In Wiesbaden macht das Mutare-Ensemble Musiktheater mal ganz ohne Text

Von Stefan Schickhaus

Als Samuel Beckett Anfang der achtziger Jahre sein Stück Square schrieb, hatte er es ja noch nicht ahnen können: Mönchskutten schlappen heute durchjede schlechte Pop-Performance, mystisches Brimborium in Bruderkluft auf jedem Bildschirm. Zu Becketts Zeit aber war die Kutte noch nicht ausgeleiert, er konnte damit noch etwas richtig Neues machen.
Wie etwa Square, ein mönchisch-asketisches Musiktheaterstück, im weitesten Sinne. Das Frankfurter Mutare-Ensemble, Deutschlands einzige feste Formation für diesen erweiterten Musiktheaterbegriff, wurde jetzt vom Staatstheater Wiesbaden eingeladen, Square im Foyer zu zelebrieren.

Ästhetiken prallten hart aufeinander. Im Ornamentdschungel des Foyers, wo Neo-Rokoko sich mit Antike und Jugendstil verkuppelt, zogen vier in grundfarbige Kutten gehüllte Darsteller ihre strengen Bahnen. Mit jeweils acht Schritten in der Diagonale und sechs an der Kante entlang durchmaßen sie nach festen Regeln ein imaginäres Quadrat. Jeder Kutte gehörte ein Scheinwerfer, und dazu ein Instrument. Wobei auch hier Reduktion und Askese die Auswahl bestimmten. Die Darstellerin in Rot zum Beispiel begleitete eine Plastiktüte, geraschelt vom Gründer und Leiter des Mutare-Ensembles, Gerhard Müller-Hornbach, höchstselbst. Die Tüte war grün, ein kleines irritierendes Moment.

Samuel Becketts Square, schön konzentriert aufs Foyerparkett gelegt und stilvoll klanglich untermalt, hatte seinen Reiz, keine Frage. Dennoch sieht man dieser Versuchsanordnung von 1981 sein Alter ungeschminkt an. Es war das retrospektive Vergnügen an einer alles andere als zeitlosen Ästhetik, so wie man sich über die guten alten Harlekinaden eines Karlheinz Stockhausen freut und über die Frühheit von dessen Generatortönen staunt. Aber bald mag es soweit sein, dass Square ein Klassiker  geworden ist. Lange können zumindest im Pop-TV die Mönchskutten nicht mehr andauern.

Ein zweites Stück hatte das Mutare-Ensemble bei seinem Gastspiel in der musik-theater-werkstatt des Hessischen Staatstheaters noch im Programm, und das war deutlich zeitnäher. Es heißt InSound, Gerhard Müller-Hornbach hat es 1998 komponiert, und mit dem Beckett-Stück verbindet es die Tatsache, dass es auf jede textliche Ebene völlig verzichtet; und dennoch Musiktheater ist, denn es braucht den Raum, es hat Protagonisten und Interaktion. Anders als in Square bewegen sich jedoch hier nicht Körper, sondern Klänge durch den Foyerraum. Und das mit einer großartigen Wirkung, Gerhard Müller-Hornbachs Klangraum war meisterhaft dimensioniert.

Inmitten der ovalen Grundfläche saß die Cellistin Susanne Müller-Hornbach, von ihr ging alles aus. Sie spielte einfache Töne, zu Urintervallen aufgeschichtet oder zu Phrasen aufgebrochen, sie manifestierte das Material.
In den Balkonlogen über ihr saß das Ensemble (darunter die phänomenale Mezzosopranistin Gabriele Zimmermann , deren Stimme einem Didgeridoo gleichkommt). Und diese Musiker reflektierten das unten Formulierte. Sie äfften nicht einfach nach, sie setzten fort, was die Protagonistin anstieß, sie sponnen weiter. Den Einzelton von Susanne Müller-Hornbach machten die Raummusiker gleichsam dreidimensional. Man sah nur eine Cellistin, aber man hörte ihre gesamte Innenwelt.

InSound ist ein großes, dezentes, wunderbares, intimes Stück. Und es wirkt mit seinen fünf Jahren noch kein bisschen gealtert.
 


 

Wiesbadener Kurier, 24.03.2003

Wie die reine Geometrie
musik-theater-werkstatt: Mutare Ensemble

Von Kurier-Mitarbeiterin
Doris Kösterke
In der jüngsten Vorstellung der musik-theater-werkstatt im Foyer des Staatstheaters hat das Frankfurter
Mutare Ensemble zwei sehr reduzierte Stücke Musiktheater aufgeführt, die jeweils keine Geschichte erzählen. Im Spätwerk 'Square" von Samuel Beckett zeigte sich stattdessen so etwas wie reine Geometrie, die sich mit den verschiedensten Assoziationen von Zuschauern aus der Abstraktheit zu einer individuellen Aussage rückverdünnen lässt.
Vier in jeweils verschiedenfarbige dunkle Kapuzenmäntel gehüllte Darsteller markieren darin ein imaginiertes Quadrat. Zunächst schreitet nur einer die Seiten und Diagonalen dieses Quadrats ab, dann zwei, dann drei, dann alle vier auf jeweils eigenem Weg, mit markant gesetzten perkussiven Schritten, von den hervorragend aufeinander eingespielten Darstellern auch in kniffligsten choreografischen Konstellationen in absoluter Synchronizität und natürlich fließender Bewegung.
Eine Idee
des Mutare-Ensembles war, die Schritte in die asymmetrische Folge von sechs plus acht zu gruppieren. Die gleichmäßigen Schläge der Schritte auf dem Parkettboden erinnerten an die beschwörenden Trommelrhythmen der allemannischen Fastnacht. Die Beleuchtung aus vier verschiedenen Ecken parallelisierte die Farben der 'Kutten". In Überlagerungen der Farben und im Schattenwurf der Darsteller entstand ein wechselvolles Farbenspiel. Wie Pastellklänge überlagerten sich auch die von den vier Schlagzeugern improvisierten Klangflächen. Insgesamt ein bestechend klares und konsequentes Spiel, dessen scheinbare Absurdität sich in der Vorstellungskraft der Zuschauer mit existentiellen Inhalten anreichern konnte; etwa, als die vierte Folge an unerwarteter Stelle abbrach - wie manches Menschenleben.
Hatte Becketts Stück, wie jedes traditionelle Musiktheater, alle Sinne gleichzeitig in Anspruch genommen, wollte sich 'InSound" von Gerhard Müller-Hornbach ausschließlich an die Ohren wenden. Die Solocellistin Susanne Hornbach saß im Zentrum des Raumes, auf den Rängen verteilt antworteten die anderen Musiker auf ihre Aktionen mit Echi, Kontrasten oder Fortspinnungen. Besondere Aufmerksamkeit zog dabei der Obertongesang der Mezzosopranistin Gabriele Zimmermann auf sich. Auch die Tonauswahl in den anderen Stimmen schien sich bewusst auf das Obertonspektrum des Grundtons zu beschränken. So ergab sich ein alle Dimensionen ausfüllendes und im wahrsten Sinne des Wortes 'harmonisches" Klangbad.
 


 

Main Echo 25.2.03

Unbeschwert - Mutare Ensemble im HR-Sendesaal Frankfurt

...Poulenc und andere Komponisten aus dem Paris der 1920er und 30er Jahre
standen auf dem jüngsten Lunchkonzert-Programm unter den 81 Scheinwerfern
des Sendesaals. Darius Milhaud, Erik Satie, Georges Auric, alles
Protagonisten eines neuen, taghellen Stils. Es ging um Musik, die man nicht
mit dem Kopf in den Händen anhört, wie Jean Cocteau damals formulierte.
Das Frankfurter MUTARE ENSEMBLE kam gar nicht erst ins Grübeln. Gemeinsam
mit dem Bariton Martin Johannes Kränzle nahmen sie die schön gemischte
"Groupe des Six"-Musik genau so untief und direkt, wie sie gemeint ist.
Niemand bei diesem betont variablen Spezialensemble für Neue Musik legte
mehr Gefühl als nötig in seinen Part, niemand verliebte sich in seinen
eigenen Ton. Alles war klar und licht, schlank in der Linie und perfekt im
instrumentalen Zugriff. Für Saties kuriosen "Sport et Divertissement"-Zyklus
und für die diversen Poulenc-Geniestreiche fanden die Mutare-Musiker in
Martin Johannes Kränzle einen Sänger, der ein denkbar feines Gespür für
Gewicht hat.
Der Bariton, seit fünf Jahren fest am Frankfurter Opernhaus, konnte ideal
abstufen zwischen dem derben Unsinnsstoff der "Rhapsodie nègre", dem
irrlichternden Kantatentext des "Le ba masqué" und den eher philosophischen
Apollinaire-Vertonungen von "Le bestiaire ou Cortège d'Orphée". Auch Kränzle
beschwerte die Musik nicht unnötig, doch ins Lapidare ließ er trotzdem
nichts kippen. Im Alltag angekommen ist diese Musik längst nicht.
Strauss-Schwere und Wagner-Tiefe gibt es überall im Angebot während man
Satie, Poulenc, Milhaud und Auric so konzentriert schon als Karnevalskonzert
begreift. Man könnte fast zu grübeln beginnen.

Stefan Schickhaus
 


 

Frankfurter Rundschau 25.2.03

Das Lächeln des Pianisten - HR-Lunchkonzert mit dem Mutare Ensemble

Hat der Pianist gelächelt? Vielleicht ein bisschen mit dem Mundwinkel
gezuckt, so andeutungsweise? Wahrscheinlich hat, innerlich. Denn wer so
schnörkellos ganzheitlich Satie spielt, der verschließt sich nicht einer
einfachen Bitte eines genialen Mannes. Die Seiten seinen Sport et
Divertissement-Partitur möge man mit einem Lächeln umblättern, hatte Satie
verlangt. Wegen all des angeregten Gelächters im Publikum bekam man das wohl
nicht genau mit.
Erik Satie war sozusagen der stilistische Gottvater im Programm des jüngsten
Lunchkonzerts im HR-Sendesall. Das MUTARE ENSEMBLE hatte dafür französische
Komponisten zusammengetragen, die alle mehr oder weniger Radikale waren
ihrer Zeit: Die drei "Groupe des Six"-Vertreter Darius Milhad, Georges Auric
und Francis Poulenc und eben Satie. Sie alle wollten Alltagsmusik schreiben,
bei der Zuhörer weder sinnen noch schwelgen sollte...
Und wirklich, so könnte der Alltag gerne klingen. Unaufgeregt, nonchalant,
wie in Milhauds Konzertsuite La création du monde von 1923 (die Schöpfung
fand schließlich nicht durchweg an einem Feiertag statt); profan und
pathosfrei wie in Poulencs Le bal masqué; einfach, gradlinig und
unverschleiert - denn so spielten die Mutare-Musiker, eine Kunst, eine große
Kunst für sich. Kein Blut, keine Tränen, kein hörbarer Schweiß.
Der Bariton Martin Johannes Kränzle , für Satie und Poulenc ein
hervorragender Fürsprecher und - sänger, bot noch einen entscheidenden
Qualitätsvorsprung hier als Solist im Ensemble. Er sang fließend und
akzentfrei pseudoafrikanisch, so wie es Francis Poulenc 1917 für seine
Rhapsodie nègre ausnotiert hatte. "Honoloulou, poti lama! Kait moko, mosi
bolou." Natürlich das dann ohne jedes Lächeln.

Stefan Schickhaus


 

FONO FORUM 11/02 zur Ernst Toch CD

"Musikalische Intelligenz"

Die hier eingespielten Werke von Ernst Toch führen gewissermaßen in das
musikalische Zentrum der 1920er Jahre, nämlich in die "Neue Sachlichkeit".
Das ist unsentimentale, klanglich geschärfte Musik, die unverkennbar etwas
von der turbulenten Stimmung der Weimarer Republik authentisch festhält. Die
Musik ist unverkrampft-direkt, spontan, ausdrucksvoll, meidet aber das
Intime, das Gefühlvolle. Zudem stehen die beiden hier eingespielten Werke
zwischen allen Gattungen, von deren Verfahren sie gleichwohl zehren: Aus der
Kammermusik übernehmen sie die solistische Besetzung, aus der Konzertform
die virtuos gesteigerte Spieltechnik aller Instrumente und aus der
Orchestermusik die reich abgestuften klanglichen Wirkungen.
Die hier vorgelegten hervorragenden Interpretationen halten gerade diesen
Synthese-Charakter der Werke ideal fest und machen damit den ganzen Reichtum
dieser Partituren unmittelbar erfahrbar. Zugleich gewinnt in diesen
Einspielungen die Musik, die sich fast schon improvisatorisch fortzuspinnen
scheint, Prägnanz und formalen Charakter. Im Cellokonzert etwa werden
geradezu alle Typen des Konzertierens abgestuft ins Spiel gebracht. Das
liegt vor allem auch daran, dass Susanne Müller-Hornbach, eine erstklassige
Interpretin
, ihren vertrackt-virtuosen Solopart auf das Ganze der Musik
bezieht und den Musikablauf wohl stets aufs Neue initiiert, ohne doch ihn
nun ständig zu dominieren. Sie bietet auf diese Weise mit dem Ensemble eine
ebenso intelligente wie musikalisch eingringliche Interpretation.

Giselher Schubert

Interpretation ****
Klang ****
 


 

Rhein-Zeitung Koblenz 26.9.2002

Ein eindrucksvoller Start in die Saison 2002/03
Erstes der Koblenzer Kammerkonzerte auf höchstem musikalischen Niveau

Mit einem ausgesprochen schwierig-gewichtigen Programm eröffnete der Verein
der Musikfreunde im Kammermusiksaal der Rhein-Mosel-Halle die neue Saison
der "Koblenzer Kammerkonzerte"
Gespielt vom Frankfurter "Mutare Ensemble" mit Johannes Blumenröther
(Violine), Susanne Müller-Hornbach (Violoncello), Ulrich Mehlhart
(Klarinette) und Daniel Krüerke (Klavier) erklangen Werke von Johannes
Brahms, Robert Schumann und Olivier Messiaen.
Der Bogen des Programms schien ziemlich weit gespannt von der Romantik bis
zur Gegenwart einer allerdings schon über 60 Jahren alten Komposition. Doch
es zeigte sich, dass da trotz allem ein gemeinsamer Bezug vorlag....
Doch wenn das Programm noch so von Endzeit-Stimmung geprägt war, musizierte
wurde es ganz diesseitig, will sagen: auf musikalisch und technisch höchstem
Niveau aller Mitwirkenden eines perfekt zusammenklingenden Ensembles. Mit
Intensität und Espressivo, voran im überzeugenden Spiel des Klarinettisten,
läßt sich vielleicht ein wenig charakterisieren, was diesen Abend zum
unvergesslichen Erlebnis machte. Möge uns die weitere Saison noch mehr
solcher Konzerte bescheren.

Dr. Uwe Baur
 


 

classics today.com  september 2002

ERNST TOCH
Tanz-Suite Op. 30; Concerto for Violoncello & Chamber Orchestra Op. 35   
CPO- 9996882(CD)

The music of German émigré composer Ernst Toch featured on this disc shows a fertile mind at work. The Concerto for Violoncello and Chamber Orchestra is ....gorgeously played by soloist Susanne Müller-Hornbach.
Conductor Gerhard Müller-Hornbach gets a big orchestral sound from the Mutare Ensemble and manages the works' multiple moods with skill and appropriate abandon.
Daniel Felsenfeld, 


Klassik-heute.de 13.08.2002

Ein neuer Höhepunkt in der Toch-Reihe von cpo. Wir erleben den Nonkonformisten von seiner besten Seite: Das ungemein hellhörig agierende Frankfurter Mutare-Ensemble erfüllt die Partituren mit größtmöglicher Lebendigkeit. Einfallsreich, fantasievoll, mit subtilem Klangsinn und von handwerklicher Gediegenheit. Vorbildliches kammermusikalisches Spiel, aufnahmetechnisch bestens präsentiert."
Künstlerische Qualität: 10;
Klangqualität: 10
Gesamteindruck: 10
(Beste Bewertung: 10)
Peter T. Köster     

 

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